«Betroffene sollen ihren Alltag autonom meistern können!»

    Der SZBLIND setzt sich seit 1903 Tag für Tag dafür ein, dass taubblinde, blinde und sehbehinderte Menschen ihr Leben selbst bestimmen und in eigener Verantwortung gestalten können. Am Montag, 27. Juni 2022 war der Tag der Taubblindheit. In unserem Interview mit Pierre-Alain Uberti, Geschäftsführer SZBLIND, erhalten wir einen Einblick über die täglichen Herausforderungen im Alltag eines taubblinden oder hörsehbehinderten Menschen.

    (Bilder: zVg) Pierre-Alain Uberti, Geschäftsführer SZBLIND: «Die Politik soll Rahmenbedingungen schaffen, damit Lösungsansätze auch realisiert werden können.»

    Für diejenigen, die den SZBLIND nicht kennen: Wie würden Sie die Organisation kurz charakterisieren?
    Pierre-Alain Uberti: Der SZBLIND ist die Dachorganisation im Schweizerischen Blinden-, Sehbehinderten- und Hörsehbehindertenwesen. Er setzt sich jeden Tag dafür ein, dass Menschen mit Taubblindheit, Hörsehbehinderung, Blindheit und Sehbehinderung in der Schweiz ihr Leben selbstbestimmt und in eigener Verantwortung führen können.

    Was sind die wichtigsten Dienstleistungen?
    Durch die Arbeit des SZBLIND an der Seite betroffener Menschen verbessert sich deren Lebensqualität. Dank individuell angepasster Unterstützungsleistungen sind sie in der Lage, ihr Leben so unabhängig wie möglich zu gestalten. Dazu gehören auch Hilfsmittel, die den Alltag der Betroffenen erleichtern. Der SZBLIND informiert auch die Öffentlichkeit zu den Themen Blindheit/Sehbehinderung, Hörsehbehinderung und Taubblindheit. Er initiiert und koordiniert Forschungsprojekte und stellt die Aus- und Weiterbildung von Fachleuten in der Schweiz sicher.

    Wie hat sich das Leben der blinden, sehbehinderten und taubblinden Menschen in den letzten Jahren verändert?
    Im Hinblick auf die Gruppe der Kinder mit einer Sehbeeinträchtigung besteht die Herausforderung in einer möglichst frühen Diagnose, um entsprechende Förderung zu erhalten. Die Kantone sparen bei der Heilpädagogik und Fachpersonen fehlen, so dass manche Kinder erst relativ spät sehbehinderten-spezifische Förderung erhalten. Erwachsene, die im Laufe ihres Lebens mit einer Sehbehinderung konfrontiert werden, stehen vor grossen psychischen, ökonomischen und sozialen Herausforderungen. Unsere Welt ist zwar in einigen Belangen dank technologischem Fortschritt und Hilfsmitteln zugänglicher geworden, aber die Zunahme der visuellen Anforderungen des privaten und beruflichen Lebens wirkt einer stärkeren Inklusion entgegen. Für ältere Menschen, Menschen mit Mehrfachbeeinträchtigung und Menschen aus anderen Kulturen sind die Herausforderungen oft sehr gross.

    Der Alltag ist für taubblinde und hörsehbehinderte Menschen eine Herausforderung: Diverse Apps, wie zum Beispiel diejenige der SBB, machen den ÖV zugänglicher.

    Wie geht unsere Gesellschaft mit taubblinden und hörsehbehinderten Menschen um?
    Taubblindheit und Hörsehbehinderung ist in unserer Gesellschaft noch zu wenig bekannt und wird nicht ausreichend berücksichtigt. Es handelt sich um eine komplexe, aber unsichtbare Behinderung, die oft nicht erkannt wird. Betroffene laufen Gefahr, isoliert zu werden. Um an der Gesellschaft teilhaben zu können, sind sie auf fachkundige Beratung, individuelle Assistenz und geeignete Hilfsmittel angewiesen.

    Gerade kürzlich wurden auf politischer Ebene mit der Motion «Stimmgeheimnis. Ein Recht für alle», die einstimmig an den Ständerat überwiesen wurde, die Weichen in eine richtige Richtung gestellt. Wie sehen Sie das?
    Menschen mit einer Sehbehinderung sind bei der Ausübung ihrer politischen Rechte auf Unterstützung angewiesen. Der pragmatische Lösungsansatz der Abstimmungsschablone ermöglicht die Wahrung des Stimmgeheimnis bei nationalen Abstimmungen und ist ein erster wichtiger Schritt hin zur Gleichstellung.

    Wie steht es um die politischen Rechte von Menschen mit einer Sehbehinderung?
    Im föderalistischen System der Schweiz gibt es noch einige Hürden zu meistern. Die grösste Hoffnung, um die politischen Rechte vollständig, autonom und selbstbestimmt ausüben zu können, liegt für Betroffene in einem barrierefreien E-Voting in allen Phasen des Abstimmungs- und Wahlprozesses.

    Was kann die Politik für sehbehinderte Menschen noch tun?
    Bei der Zugänglichkeit in vielen Bereichen des Lebens (öffentlicher Verkehr, Dienstleistungen, Informationen, …) besteht grosser Handlungsbedarf, damit Betroffene ihren Alltag autonom meistern können. Die Politik soll Rahmenbedingungen schaffen, damit Lösungsansätze auch realisiert werden können.

    Der pragmatische Lösungsansatz der Abstimmungsschablone ermöglicht die Wahrung des Stimmgeheimnis bei nationalen Abstimmungen und ist ein erster wichtiger Schritt hin zur Gleichstellung.

    Sie fordern unter anderem barrierefrei bedienbare Haushaltsgeräte. Was sind weitere Herausforderungen für Sehbehinderte im Alltag?
    Den Haushalt selbständig zu führen ist ein Grundbedürfnis des Menschen, unabhängig von möglichen Einschränkungen. Sich selbst eine Mahlzeit zubereiten, Kleider zu waschen etc. ohne Gefahr zu laufen, sich die Finger zu verbrennen, die Kleider zu heiss zu waschen. Das Leben soll selbstständig und in Würde gelebt werden können. Aus diesem Grund verfolgen wir den Design-for-all-Ansatz, welcher besagt, dass bereits in der Entwicklungsphase eines Haushaltsgerätes die Bedürfnisse aller mitgedacht und schlussendlich in ein Produkt münden sollen. Dies senkt Kosten, denn nicht zugängliche Produkte nachträglich zugänglich zu machen ist häufig unmöglich oder mit grossen Umsetzungshürden und höheren Kosten verbunden.

    Die Digitalisierung scheint für Sehbehinderte Fluch und Segen zu sein. Wo gibt es konkret Vorteile?
    Die Digitalisierung hat etliche Vorteile für Menschen mit einer Sehbehinderung. Diverse Apps machen zum Beispiel den ÖV zugänglicher (z.B. die App SBB inclusive). Auch können blinde und sehbehinderte Menschen via Apps wie «myway» aber auch «google maps» selbständiger neue Wege erkunden und sich in fremder Umgebung zurechtfinden. Zugängliche Websites ermöglichen Zugang zu Informationen, die vor der Digitalisierung nicht verfügbar waren. Auch das Zahlen via Twint ist für blinde und sehbehinderte Menschen eine Erleichterung. Voraussetzung für das Nutzen all dieser Vorteile ist die Affinität zu den neuen Technologien und auf der Seite der App- und Web-Programmierer die Berücksichtigung der Barrierefreiheit.

    Was sind wichtige Projekte von SZBLIND?
    Vom 23. bis 30. Juni lief die Aktion «Zu Tisch mit Hörsehbehinderung oder Taubblindheit». 28 Restaurants in der ganzen Schweiz legten zu dieser Zeit Tischsets auf, in die eine Brille integriert ist, die eine starke Sehbehinderung simuliert. Zusätzlich stand Gehörschutz bereit, um eine Hörbehinderung nachzuempfinden. So konnten Menschen erfahren, wie es ist, ohne zu sehen und zu hören einen Restaurantbesuch zu erleben. Die Aktion machte auf die Bedürfnisse hörsehbehinderter Menschen aufmerksam. Mehr dazu unter www.tag-der-taubblindheit.ch.

    Was wünschen Sie sich für SZBLIND respektive für sehbehinderte Menschen für die Zukunft?
    Ich wünsche mir eine inklusive Gesellschaft, in der alle Menschen mit Behinderungen, darunter auch Menschen mit Blindheit, Sehbehinderung und Hörsehbehinderung die gleichen Rechte wie Menschen ohne Behinderungen haben. Und das nicht nur auf dem Papier!

    Interview: Corinne Remund


    Zahlen und Fakten

    Die wichtigsten Meilensteine:

    • Im Jahr 1903 Gründung der Dachorganisation in St. Gallen.
    • Im Jahresbericht 1924 erste Erwähnung der «Taubblindenfürsorge».
    • Im Jahr 1941 Eröffnung des Standorts in Lausanne.
    • Im Jahr 1984 bezieht der SZBLIND seine heutigen Räumlichkeiten in St. Gallen.
    • Im Jahr 2004 gibt sich der SZBLIND ein neues Leitbild und neue Statuten als Dach- und Dienstleistungsorganisation.
    • Im Jahr 2012 Eröffnung der Forschungsstelle des Sehbehindertenwesens; ab 2019 Einführung der neuen offiziellen Abkürzung SZBLIND.

    Der SZBLIND hat im 2019

    • 16’781 Beratungsstunden für taubblinde und hörsehbehinderte Menschen geleistet.
    • 141 Kurse, Anlässe, Ateliers und Ferienwochen für Betroffene durchgeführt.
    • 18’223 Hilfsmittel für blinde, sehbehinderte und hörsehbehinderte Menschen abgegeben.
    • 297 Fachleute für die Arbeit mit Betroffenen geschult.
    • 106’752 Informationsbroschüren, Simulationsbrillen, Augenbinden etc. abgegeben.
    • Freiwillige Mitarbeitende haben 21’689 Begleitstunden für taubblinde und hörsehbehinderte Menschen geleistet.

    Dienstleistungen der Dachorganisation:

    • Wir organisieren Weiterbildungskurse für Fachpersonen, die mit taubblinden, blinden, hörsehbehinderten und sehbehinderten Erwachsenen und Kindern arbeiten.
    • Wir schaffen mehr Wissen über die Lebensbedingungen betroffener Menschen.
    • Wir informieren die Öffentlichkeit über Sehbehinderungen und deren Folgen.
    • Wir führen eine Fachbibliothek für Fachleute und Interessierte.
    • Wir koordinieren die Zusammenarbeit und Interessenvertretung im Sehbehindertenwesen.

    www.szblind.ch

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